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Die Kinder ziehen aus – Tragödie oder Chance?

Erinnerst du dich, als dein Kind das erste Mal den Kindergarten besucht hat?  Als du geplant hast, es eine Woche lang auf dem Weg dahin zu begleiten und es schon am zweiten Tag allein gehen wollte? Voller Freude und Selbstvertrauen. An deine Wehmut darüber, dein Kind loszulassen. Gleichzeitig an die Freude, dass es diesen Schritt so gut gemeistert hat? Die Freude über die gewonnene Zeit für dich?

Ich kann mich noch so gut an diesen ersten Tag erinnern

an den Tag, als meine beiden Kinder für eine Stunde in der Schule und im Kindergarten waren. Damals gab es die Blockzeiten noch nicht 😊. Als ich für diese eine Stunde nach Bülach ins Café Klaus ging und es einfach nur voller Freude genossen habe. Diesen Luxus, diese eine Stunde ganz für mich. Ohne Babysitter. Ohne dass ich vorher irgendjemandem darüber Bescheid geben musste, was ich vorhabe. Das war Freiheit pur!

Grosse Freude und leise Wehmut

Doch seit der Geburt meiner Kinder war da immer auch diese leise Wehmut, die dieses stetige Loslassen  bei mir auslöste. Und gleichzeitig die Freude über ihre neuen Schritte und die gewonnene Freiheit für mich.

Wie viele male hätte ich gerne gesagt: «Bleib doch!». Stattdessen sagte ich zu meinen Kindern und mir: «Geh! Mach deine Erfahrungen."

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Meine Tochter zieht aus

Diese Wehmut war auch da, als mit meiner Tochter mein letztes Kind vor zwei Jahren ausgezogen ist. Ich habe mich so für sie über ihre erste Wohnung gefreut! Mich daran erinnert, als ich damals von zu Hause ausgezogen bin. Doch ein ganz wichtiger Abschnitt in meinem Leben ging damit vorüber.

Es gibt einen Namen für diese Traurigkeit – das ‘Leere-Nest-Syndrom’

Viel habe ich vorher gelesen über dieses ‘leere Nest-Syndrom’. Viel habe ich gehört über diese Trauer, wenn die Kinder ausziehen. Über den Verlust dieser langen, so prägenden und sinnhaften Zeit mit den Kindern unter einem Dach. Über Gefühle der Trauer, der Sinn- und Nutzlosigkeit.

Was mit der neu gewonnen Freizeit und Freiheit anfangen? 

Der Auszug der Kinder gehört zu den ganz normalen Übergängen in unserem Leben. Es ist ein Abschied für einen neuen Lebensabschnitt. Ein Neuanfang.

Plötzlich kannst du alles tun und lassen, was du willst. Musst auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Du kannst dich austoben und das tun, was du immer schon mal tun wolltest. Doch da ist diese Leere im Haus, diese Fülle an Zeit, mit der du vielleicht noch gar nichts anzufangen weisst. Da ist niemand mehr, den du umsorgen kannst.

Dieses ‘Leere-Nest-Syndrom’ kann Alleinerziehende wie auch Paare betreffen

Mütter und Väter. Generell identifizieren sich Mütter mehr mit ihrer Rolle und verbringen mehr Zeit mit ihren Kindern. Viele Mütter fragen sich in dieser Zeit: "Wer bin ich denn ohne meine Kinder?" Väter identifizieren sich generell mehr mit ihrem Beruf und können vielfach besser loslassen. Sie reden vielleicht weniger über ihre Gefühle. Deshalb kann die Trauer bei Müttern und Vätern unterschiedlich gross sein und unterschiedlich ausgedrückt und verarbeitet werden. 

Zwei Menschen müssen sich wieder neu finden

Trotzdem müssen beide ihre Trauer überwinden und die Kinder jeder für sich loslassen lernen. Sie haben plötzlich wieder viel Zeit zu zweit füreinander und miteinander. «Wie gestalten wir nun diese neue Zweisamkeit? Was reden wir miteinander, wenn sich vorher so vieles um die Kinder gedreht hat? Wie finden wir wieder zueinander, wenn wir uns vielleicht auseinandergelebt haben? Wenn der Zusammenhalt wegen der Kinder wegfällt?» An diesen Fragen, ja an dieser Herkulesaufgabe, scheitern viele Ehen, wenn man die Statistik anschaut.

Was mache ich ohne die Kinder als Alleinerziehende?

Gerade bei Alleinerziehenden kann der Alltag mit Job und Kindererziehung prall gefüllt sein. So dass wenig Zeit für sich oder Freunde bleiben kann. Da kann nach dem Auszug der Kinder die Einsamkeit und die innere Leere gross sein. «Wie fülle ich diese innere Leere? Was mache ich gegen meine Einsamkeit? Was mache ich in meiner Freizeit? Wie gebe ich meinem Tag Struktur?» können hier ganz zentrale Fragen sein.

Die Wehmut war da, aber die Freude überwog – wie bei ganz vielen Frauen übrigens

Es gibt Frauen, die fühlen sich als Rabenmütter, wenn sie sich über den Auszug der Kinder freuen. Wenn die Trauer sich widererwarten in engen Grenzen hält. Sie denken, sie sind die einzigen und trauen sich nur, dies hinter vorgehaltener Hand zu sagen.  Sie fühlen sich falsch, weil sie nicht tieftraurig sind.

Doch es gibt kein falsch oder richtig. Wir fühlen, wie wir fühlen. Punkt. Es ist ganz wichtig, Gefühle nicht einfach wegzumachen. Sondern sie anzunehmen und zu fühlen. Denn Ge-fühle wollen gefühlt werden. Dann setzen sie sich nicht fest und können  wieder gehen. 

Für mich hat sich eine neue Tür geöffnet 

Eine Wohnung für mich allein, nach fast 40 Jahren! Ich habe mich wie ein Teenager gefühlt. Und mich so gefreut wie meine Tochter sich über ihre erste Wohnung! Wir waren beide etwas wehmütig und doch voller Freude. Der Abschied war für mich sicher einfacher, weil ich zum gleichen Zeitpunkt in eine neue Wohnung umgezogen bin. Dieses 'leere Zimmer' mit den vielen Erinnerungen blieb mir dadurch erspart. 

Schon vor ihrem Auszug sind mit dem flügge werden meiner Kinder meine Bedürfnisse mehr und mehr ins Zentrum gerückt. Zeit für mich alleine wurde mir mit den Jahren immer wichtiger. Mehr Raum und Zeit für mich ergaben neue Möglichkeiten. «Wer bin ich denn und wer möchte ich sein? Was sind meine Träume und Ziele? Was möchte ich verändern, beruflich und privat?» Das waren meine wesentlichen Fragen. Die Wechseljahre halfen mir sehr dabei, die Veränderungen anzupacken, die ich mir wünschte. Ich habe mein Leben umgekrempelt. 

Lass los, damit du beide Hände frei hast 

Fang wieder an zu träumen. Nimm dir Zeit für dich. Entdecke dich neu. Wo stehst du im Leben? Was hast du vielleicht verpasst? Wo möchtest du hin? Was möchtest du unbedingt noch tun?

Gib dir und deinem Partner die Chance, euch wieder neu zu entdecken. Ein neuer Abschnitt in eurer Beziehung beginnt. Ähnlich dem, in dem ihr eure Kinder bekommen habt.

Doch manchmal hat man sich so auseinander gelebt, dass bei der Frage ‘bleiben oder gehen’ die Antwort 'gehen' sein kann. Für dich und deinen Partner. Für einen Neuanfang. 

Ich habe meine Kinder nicht verloren

Sicher, dann und wann ist da auch heute noch dieses leise wehmütige Gefühl. Das Lied ‘Slipping Through my Fingers’ von den Abbas beschreibt es so schön. Ich habe jedes mal Tränen in den Augen, wenn ich es höre.

Ich bin für meine Kinder ins zweite Glied gerückt. Und das ist gut und richtig so. Sie lieben mich sehr, das weiss ich. Und ich liebe sie, von ganzem Herzen. Doch auch meine Prioritäten haben sich verschieben dürfen.

Die Freude überwiegt. Die Freude über mein Leben und das meiner erwachsenen und selbständigen Kinder. Und nun auch noch über meine süsse Enkelin. Über meine neue Rolle als Grossmutter. Ich freue mich sehr, wenn ich mit meinen Kindern heute ganz bewusst Zeit verbringen kann. In ganz neuer Qualität. Und es ist auch ok, wenn sie wieder gehen :-).

Loslassen fängt im Kopf an

Loslassen hat nichts mit dem Herzen zu tun. Loslassen fängt im Kopf an. Frag dich: Was ist gut für deine Kinder? Was war gut für dich, als du dich in jungen Jahren selbständig gemacht hast? Trau deinen Kindern ihr neues Leben und ihre neue Selbständigkeit zu. Trau deinen Kindern ihren ganz eigenen Weg zu! Lass deine alte Rolle los und trau dir eine neue zu. Wenn nicht jetzt wann dann?

Freu dich auf deinen neuen Lebensabschnitt voller Abenteuer und neuen Entdeckungen. Auf den Weg zu dir!

Viele Grüsse und bis demnächst

Deine Verena

Verena Gehrig

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